Starke Frauen. Starke Geschichten
Unser Festivalthemenschwerpunkt „Starke Frauen. Starke Literatur“ umspannt nicht nur 13 spannende Veranstaltungen, sondern findet für Sie, liebe Freundinnen und Freunde des Literaturherbst, auch im Digitalen statt: Wir präsentieren Ihnen hier über die Dauer von vier Festivalwochen nach und nach etliche beeindruckende starke Frauen in Interview-Porträts und Essays, darunter starke Autorinnen, Verlegerinnen, Übersetzerinnen, Buchhändlerinnen, Regisseurinnen, Kulturschaffende u.v.m. – aus acht Jahren Literaturherbst Heidelberg, aus der Metropolregion Rhein-Neckar und weltweit. Begeistern Sie sich mit uns für diese „Starke Frauen. Starke Geschichten“! Wir bedanken uns herzlich bei all diesen wunderbaren Frauen für ihre Bereitschaft, ihre Gedanken, Lebenswege, Werke, Projekte und Ideen mit uns zu teilen!
Lesen Sie zur Feier unserer Festivaleröffnung die ersten fünf Interview-Porträts „Starke Frauen. Starke Geschichten“
Entdecken Sie in unseren vier Festivalwochen
spannende „Starke Frauen“ in Interview-Porträts und Videos,
lesen Sie Essays von und über „Starke Frauen“,
erhalten Sie noch weitere Lesetipps rund um „Starke Frauen. Starke Literatur“ von starken Buchhändlerinnen aus Heidelberg –
mit nur einem
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Besuchen Sie uns recht bald wieder und entdecken Sie weitere wunderbare „Starke Frauen. Starke Geschichten“
Starke Frauen. Starke Autorinnen
Erleben Sie die Autorin Adriana de la Fuente beim 8. Literaturherbst
Heidelberg.
Sie liest aus ihrem Roman „Die Flucht“ am 8. Oktober 2022, 18:00 Uhr, in der Stadtbücherei
Heidelberg.
Adriana de la Fuente, Sie sind in Rosario, in Argentinien geboren, wuchsen in Cañada de Gómez in der argentinischen Provinz Santa Fe auf. 19 Jahre waren Sie alt, als das Militär 1976 die Regierung Perón stürzte. Sieben Jahre lang herrschte ein diktatorisches Regime, dem zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Bis heute dauert die Aufarbeitung der Verbrechen an. Ihnen gelang die Flucht. Wie präsent ist Ihnen jener 24. März heute noch?
Sehr präsent. An diesem Tag änderte sich unser Leben für immer. Die Tatsache, dass wir entkamen und dann anderswo ein „normales“ Leben führen konnten, macht unser Leid und das unserer Familien während dieser langen Jahre nicht ungeschehen. Aber abgesehen von der persönlichen Wunde gibt es eine kollektive Wunde. Ich kann nicht vergessen, dass ich zu einer Generation gehöre, die gefoltert, ermordet, zum Verschwinden gebracht wurde als Teil eines grausigen Plans. Viele Jahre sind vergangen, und doch habe ich immer noch oft eine „rückwirkende Angst“, Phantasien darüber, was passiert wäre, wenn der Zufall nicht zu unseren Gunsten gespielt hätte.
Manche Argentinier erhofften sich – angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage, der politischen Gewalt und auch des Terrors seitens Guerillatruppen und Paramilitärs – vom Militärputsch und der Absetzung Peróns bessere Zeiten. Sie ahnten nicht, dass die Militärjunta einen rigorosen Überwachungsstaat einführen und Journalisten, Studenten, Gewerkschafter und Intellektuelle verfolgen und in geheime Lager bringen würde. Wie war das bei Ihnen? Was bewog Sie zu Ihrer Flucht?
In der Tat wussten wir alle, dass „etwas“ passieren würde, und dieses „etwas“ war ein Staatsstreich. Was wir uns nicht vorstellen konnten, war das Ausmaß des Grauens, das sie organisiert hatten, um jeden zu beseitigen, der sich ihren Plänen widersetzten könnte. Persönlich haben wir auch nicht damit gerechnet, dass in den ersten Stunden des Tages des Militärputsches nach den Gewerkschaftlern und politischen Aktivisten der Fabriken, einschließlich meinem Mann, gesucht werden würde. Zuerst durchsuchten sie das Haus meiner Schwiegereltern, dann das Haus meiner Eltern, und als sie bei uns zu Hause ankamen, waren wir nicht mehr da. Sie nahmen meinen Schwiegervater in Gewahrsam und hielten ihn wochenlang illegal fest, wobei er ständig verhört wurde. Wir hielten uns einige Monate lang versteckt, bis uns klar wurde, dass der einzige Ausweg darin bestand, das Land zu verlassen.
Sehen Sie hier den Teaser zur Buchveröffentlichung.
„Die Flucht“ ist überall im Handel erhältlich und selbstverständlich auch über den Draupadi Verlag bestellbar.
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1977 – im Alter von 21 Jahren – ließen Sie sich in Deutschland nieder. Wie haben Sie die Ankunft als so junge Frau in einer doch fremden Kultur fernab der Heimat erlebt?
Deutschland war eine unerwartete Überraschung. Wir verließen Argentinien mit der Idee, in Venezuela, dem damals einzigen demokratischen und stabilen Land Südamerikas, politisches Asyl zu suchen. Aber der Plan scheiterte, und wir saßen erst in Brasilien und dann in Kolumbien fest und wussten nicht, was wir tun sollten. Der Zufall und das UNHCR brachten uns aus Kolumbien heraus, und wiederum der Zufall brachte uns nach Deutschland, als Spanien uns die Einreise verweigerte. Als wir ankamen, war unsere erste Reaktion Angst und Unsicherheit; wir wussten nicht, wovon wir leben würden, ohne die Sprache zu können. Deutschland hat uns sehr gut aufgenommen, wir bekamen politisches Asyl und damit Hilfe, um Sprachkurse zu machen, an der Universität zu studieren, wir bekamen eine Wohnung, legale Dokumente. Wir haben erreicht, wonach wir gesucht hatten: einen sicheren Ort, an dem wir in Frieden leben konnten. Aber es war nicht alles ein Märchen, die Flucht war ein traumatisches Erlebnis, das Exil eine harte Strafe, und die Anpassung an eine andere Kultur geschah nicht über Nacht. In den ersten Jahren in Deutschland bezahlte ich dafür mit Panikattacken, Magersucht, Krankheiten aller Art und einer Traurigkeit, die besonders an Weihnachten und bei Familienfesten, bei denen ich immer abwesend war, zunahm.
Was bedeutet „Heimat“ für Sie?
Für mich ist die Heimat nicht durch den Ort der Geburt bestimmt, sondern Heimat wird konstruiert. In diesem Sinne kann es jeder Ort sein, an dem man sich niederlässt und wohlfühlt, an dem man emotionale Bindungen eingeht (Freunde, Familie), an dem man wichtige Momente erlebt, an dem man willkommen ist und gut behandelt wird, an dem man ein würdiges und zufriedenes Leben führen kann. Heute fühle ich mich in Cañada de Gómez, in Heidelberg und in Madrid zu Hause. Drei Orte, wo ich Zuneigung empfinde, wo ich mich geliebt weiß, die für mich besonders wichtig sind. Und gleichzeitig fühle ich mich an jedem dieser Orte ein wenig fremd, das sind die Widersprüche eines etwas „nomadischen“ Lebens.
Heimat, Flucht, Entwurzelung, – all dies scheint seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 bis zum heutigen Krieg in der Ukraine, den veränderten Machtverhältnissen in Afghanistan oder den Krisen an etlichen anderen Schauplätzen gravierend an Aktualität gewonnen zu haben. Mit welchen Empfindungen blicken Sie auf das aktuelle Weltgeschehen?
Ich bin leider sehr pessimistisch, was die Flüchtlingskrise und ihre zukünftige Entwicklung angeht. Ich denke, das ist ein großes Problem, das sich noch verschärfen wird, sowohl aufgrund von Kriegen oder diktatorischen Regierungen als auch aufgrund von Umweltkatastrophen wie Dürren, Hungersnöten, Wirtschaftskrisen usw. Und die „Lösungen“, die die Zielländer gefunden haben, scheinen darin zu bestehen, Barrieren und Mauern zu errichten. Sie gehen sogar so weit, dass sie Drittländer dafür bezahlen, damit sie die Migrationsströme an ihren Grenzen aufhalten und sie nicht durchlassen. Wir sollten uns als Menschheit dafür kollektiv schämen. Das sind Menschen, die nur auf der Suche nach einem besseren Leben oder auf der Flucht vor dem Terror sind. Es mangelt aber an Einfühlungsvermögen und Gedächtnis.
Sie haben die politischen Ereignisse und Ihre eigenen Erlebnisse in Ihrem Roman „Die Flucht“ – spanisch: „La Huida“ – literarisch verarbeitet. Wie viel von Ihnen selbst ist in die Hauptfigur Elena eingeflossen?
99%. Sie hat einen anderen Namen und vielleicht ein paar andere körperliche Merkmale als ich, aber diese Elena war ich im Alter von 20 Jahren. Während der Vorbereitung des Romans las ich die Briefe, die ich während dieser Reise an meine Mutter geschrieben hatte (es waren nur wenige, 9 oder 10), und ich fand mich dort wieder. Und ich glaube, es ist mir gelungen, aus diesem Alter und diesem Moment heraus zu schreiben, ohne die Einmischung meines gegenwärtigen Ichs, als ältere Frau, als eine Frau, die viel mehr gelebt hat. Das machte das Schreiben sehr herausfordernd.
Jede „Flucht“ ist immer auch eine Suche. Was sucht das frisch verheiratete Paar Elena und Fran?
Ich denke, das Wichtigste ist nicht so sehr, was sie suchen, sondern was sie hinter sich lassen wollen: den Terror. Auf jeden Fall kann man sagen, dass das ideale Ziel ein sicherer Ort war, an dem man ohne Angst leben konnte, was zu jener Zeit in Südamerika nur schwer zu finden war. Diese Suche und die Entwicklung von Elena und Fran auf dieser Reise voller Schwierigkeiten ist die Geschichte, die im Roman erzählt wird.
Wie weit bzw. nah hat Sie das Schreiben des Romans – über 40 Jahre nach Ihrer eigenen Flucht – zurückgeführt? Was haben Sie die Arbeit an Ihrem Roman erlebt?
Das Schreiben des Romans war ein langer, vielseitiger Prozess. Einerseits war es sehr traurig, sehr hart, ich habe viel geweint, als ich es geschrieben habe, besonders beim ersten Teil, dem Teil über Argentinien. Andererseits war es sehr befreiend, ich konnte mich in der Lage meiner Eltern und Schwiegereltern hineinversetzen, ihr Leid nachempfinden, aber gleichzeitig Schuldgefühle ablegen. Ich konnte lose Enden verknüpfen, Konflikte entdecken, die ich aufgrund meines Alters damals nicht gesehen oder nicht berücksichtigt hatte. Es war auch für uns als Paar bereichernd, zu diesem Teil unserer Geschichte zurückzukehren, über Dinge zu sprechen, die wir verschwiegen hatten, Erinnerungen auszutauschen, die oft sehr unterschiedlich waren.
In Deutschland haben Sie Germanistik und Romanistik studiert und unterrichteten im Anschluss an der Universität Heidelberg wie auch an verschiedenen Sprachinstituten. Ihren Roman haben Sie auf Spanisch geschrieben. Er wurde von Maria Hoffmann-Dartevelle ins Deutsche übersetzt. Was bedeuten Sprachen für Sie, was verbinden Sie mit der spanischen, was mit der deutschen Sprache?
Deutsch zu lernen war zunächst ein Grundbedürfnis, das schließlich zu meinem Studienfach wurde. Ich mag die Sprache, und ich glaube, ich kann sie sehr gut sprechen, lesen und schreiben aber, egal wie gut ich sie beherrsche, Deutsch ist nicht meine Muttersprache. Spanisch ist für mich eng mit Gefühlen verbunden, Wörter haben eine affektive Konnotation, die ich im Deutschen vermisse. Ich fühle mich „aufrichtiger“, wenn ich Spanisch verwende, um Gefühle auszudrücken. (Deswegen fluche ich immer auf Spanisch.) Aus diesem Grund ist Spanisch die einzige Sprache, die für mich beim Schreiben von Geschichten in Frage kommt. Denn das, was erzählt wird, entsteht immer aus einer Emotion heraus. Die Sprache muss versuchen, sie bestmöglich auszudrücken. Was die Übersetzung anbelangt, finde ich, dass Maria Hoffmann-Dartevelle eine wunderbare Arbeit geleistet hat, und wenn ich die Meinungen der deutschen Leser berücksichtige, denke ich, dass es ihr gelungen ist, die Emotionen im Deutschen ebenso gut zu vermitteln wie im spanischen Original.
Das Interview führte Veronika
Haas.
Foto: Adriana de la Fuente © Draupadi Verlag
Starke Frauen. Starke Verlegerinnen
Frau Michael, seitens eines Literaturfestivals mit Ihnen zusammenzuarbeiten, bedeutet nicht nur, spannende literarische Entdeckungen zu machen, sondern auch eine leidenschaftlich engagierte, stets ansprechbare Verlegerin kennenzulernen. Geschäftsführung, Programmleitung Belletristik, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Was trägt Sie durch Ihren zweifellos intensiven Arbeitsalltag, und wie sieht dieser aus?
Durch meinen Arbeitsalltag trägt mich meine Begeisterung für unsere Autor*innen und ihre Bücher. Viele davon sind jung oder in Deutschland unbekannt. Ich möchte Ihre Stimmen hörbar machen, etwas für sie erreichen, ihre Werke bekannt machen. Das ist mein Antrieb aber auch meine große Freude. Meine Tage sind intensiv. Sie beginnen meistens ganz früh zu Hause am Computer, wo ich entweder das erledige, was ich am Tag vorher nicht geschafft habe oder Angelegenheiten, die ich auf keinen Fall vergessen will. Denn wenn ich in den Verlag komme, stürzen die Dinge auf mich ein und kein Tag verläuft so, wie ich ihn ursprünglich geplant hatte. Meist sind die Tage länger als geplant, oft lese ich abends noch Manuskripte oder Fahnen. Aber es vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich mich nicht über einen kleinen Erfolg freuen kann. Und Erfolg heißt für mich: etwas, was ich für unsere Autor*innen erreichen konnte. Das führt mir immer wieder vor Augen, dass das, was ich tue, sinnvoll ist. Und das ist ein schönes Gefühl.
Fünf Jahre erst besteht der unabhängige Orlanda-Verlag und hat bereits jetzt eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte: Sie wurden mehrfach mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet, mit Florence Brokowski-Shekete stand Orlanda auf der Bestseller-Liste, und als der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Tsitsi Dangarembga verliehen wurde, war das einzige Buch, das von ihr in deutscher Übersetzung zu kaufen war, in Ihrem Verlag erhältlich. Was ist der Schlüssel Ihres verlegerischen Erfolges?
Ich denke, wir bei Orlanda, das bin ja nicht nur ich alleine, haben ein gutes verlegerisches Gespür, das nicht darauf ausgelegt ist, monetäre Erfolge
zu erzielen, sondern Themen aufzuspüren, die die Welt ein bisschen besser und gerechter machen. Wir haben Tsitsi Dangarembga in unser Programm aufgenommen, als sie noch weitgehend
unbekannt war in Deutschland, ja über 20 Jahre aus der deutschen Literaturlandschaft verschwunden war. Wir waren gerade an der Produktion ihres zweiten Romans, als ihr der
Friedenspreis verliehen wurde. Diese Woche erscheint nun der dritte Roman der Trilogie. Das sind für einen kleinen Verlag wie unseren, echte finanzielle Hürden. Da hilft so ein
Verlagspreis enorm, denn er bedeutet vor allem finanzielle Unterstützung für uns als Verlag.
Wir versuchen Geschichten zu finden, die dem, was in den Nachrichten oft hinter einer plakativen Headline verschwindet, tiefergehende Bedeutung und
eine reale Entsprechung zu geben. Wir wollen Realitäten aufzeigen, die hier oft unbekannt und ungesehen sind, Menschen Gesichter geben, die sonst hinter Zahlen verborgen bleiben:
Wie ist es auf der Flucht zu sein, was zwingt Menschen oder treibt sie an, ihre Heimat zu verlassen, was bedeutet es neu anzufangen oder was erleben Menschen auf ihren
Fluchtrouten und dann im Ankunftsland? Was fühlen Frauen, wenn sie zwangsverheiratet werden, was erleben Migrant*innen, wenn sie nach Deutschland kommen oder was erleben Schwarze
Menschen täglich, auch wenn sie hier geboren sind? Das sind die Themen, die uns interessieren.
»Frauen, Weltkultur, Bewegung« ist die Orlanda-Programmbeschreibung, „Bewegung“, so die Verlagsdevise, „schafft Zukunft“. Welche Bewegung brauchen wir in der gegenwärtigen Welt? Weshalb „Frauen“ und „Weltkultur“?
Wenn wir uns den Aufgaben stellen wollen, die die notwendige Transformation der Welt und unserer Gesellschaft möglich macht, brauchen wir vor allem
auch Bewegung in unseren Köpfen, in unseren Ansichten, in unseren Haltungen. Die Welt verändert sich rasant. Wir müssen uns für die Zukunft neu aufstellen. Alte Muster müssen
aufgebrochen werden. Geschichte muss neu bewertet und geschrieben werden. Kunst muss sich neu sortieren.
Unsere Gesellschaft ist divers und vielfältig. Diese Realität muss in unserem Bewusstsein ankommen. Es gibt Ungerechtigkeiten, die erkannt und
ausgeräumt werden müssen. Es muss Solidarität geben, damit die Welt gerechter wird. Ausbeutung muss beendet werden, Wohlstand gerechter verteilt werden. Es muss Wertschätzung und
Respekt für alle Menschen geben und nicht mit unterschiedlichen Maßen gemessen werden.
Wer sich für diese Themen stark oder Tabus sichtbar macht, ist gerade in der heutigen Zeit oftmals Anfeindungen ausgesetzt. Erleben Sie das auch in Ihrem Verlag?
Wir wollen Themen Raum geben, die nicht unbedingt im Hauptfokus des öffentlichen Interesses stehen. Und das mit einem sehr gezielt kuratiertem
Programm. Und wir wollen gezielt Autor*innen eine Stimme geben, die hierzu etwas beitragen können.
Ich muss sagen, dass die Zustimmung und die Wertschätzung für unser Programm bei weitem die Kritik überwiegt. Ich höre aber immer wieder von unseren
Autor*innen, dass es vor allem über Social Media unschöne Attacken und Anfeindungen gibt. Oft auch als Reaktion auf Interviews oder Medienauftritte. Das ist absolut inakzeptabel
und muss aufhören.
Nun gibt es auch ein Kinderbuchprogramm im Orlanda Verlag. Kinder-Bücher über Flucht und Ankommen. Welche Wünsche verbinden Sie damit?
Ich wünsche mir, dass diese Bücher Verständnis für die Lage von Kindern schaffen und zeigen, was sie erleben, wenn sie neu anfangen müssen: die Belastung der Familien, das Umgehen mit den Traumata aus der Heimat, wie schwierig ein Start ist, wenn die Sprache – und oft ja auch die Schrift – nicht bekannt ist. Es ist unser Ziel, dass diese Bücher vor allem auch in die Kitas und Schulen kommen und neuangekommenen Kindern zeigen, dass sie in den Büchern im neuen Land und in unserer Gesellschaft vorkommen, dass sie die Protagonist*innen sind. Und dass die anderen Kinder verstehen, was sie erlebt haben und ein Diskurs darüber entsteht. Ich bin davon überzeugt, wenn wir dieses gegenseitige Verständnis von klein auf erreichen und implementieren, wird auch die Gesellschaft in Zukunft eine bessere und eine offenere sein.
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs erhalten Bücher über Flucht und Ankommen umso mehr Aktualität. Haben Sie, die Sie den Blick auf etliche Krisenregionen in der Welt offenhalten, den Eindruck, dass Kriegs- und Gewaltschauplätze fern von Europa – etwa in Syrien, der Sahelzone oder in Afghanistan – zu wenig in unserem Bewusstsein sind?
Das ist leider eine traurige Erkenntnis in diesem Jahr. Ich selbst war 2015/16 in der Flüchtlingsarbeit in Berlin ehrenamtlich tätig und habe mich
vor allem um unbegleitete minderjährige Geflüchtete gekümmert, war Vormünderin von zwei Jugendlichen. Wenn man die Unterschiede in der Behandlung betrachtet, ist das bitter. Und
verstehen Sie mich nicht falsch: Alle Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, verdienen unsere Hilfe und Unterstützung, aber bei genauer Betrachtung der Lage kommt es mir
schon so vor, als ob weiße Menschen anders und besser behandelt werden als die, die von weiter weg kommen. Wer spricht heute noch in den Medien über die Geflüchteten, die jeden
Tag im Mittelmeer ertrinken? Wer kümmert sich noch um die Mädchen und Frauen in Afghanistan und all die Ortskräfte, die mit dem Tod bedroht sind? Wen interessiert, dass in den
Subsahara Staaten die größte Hungersnot der letzten Jahrzehnte droht oder wenn Mädchen in Kamerun von Boko Haram entführt werden? Das ist weit weg. Wir lassen es nicht an uns
heran.
Das ist sehr traurig und beschämend und für uns eine Motivation, mit unserem Programm genauso weiterzumachen wie bisher. Wir möchten Erkenntnis,
Verständnis und Solidarität erwirken mit unseren Büchern. Wer versteht kann besser einordnen und wird im besten Fall auch motivierter sein zu helfen und sich einzusetzen.
Hat Literatur tatsächlich die Macht, Einstellungen, ja vielleicht auch eine ganze Gesellschaft zu verändern?
Ja, Literatur hat diese Macht – im Idealfall. Nehmen Sie Djaïli Amadou Amal und ihren Roman »Die ungeduldigen Frauen«, die Geschichte dreier
Frauen, die im Norden Kameruns als Fulben leben. Ihre Schicksale sind miteinander verwoben – durch Zwangsheirat, Polygamie und häusliche Gewalt. Sie hat den Roman, der auf
eigenen Erfahrungen und denen in ihrem persönlichen Umfeld basiert, geschrieben, um ihre beiden Töchter vor diesem Schicksal zu bewahren. Sie begann mit dem Schreiben,
weil sie wusste, wenn sie Autorin und somit eine öffentliche Person ist, würde niemand mehr wagen, gegen ihren Willen zu handeln. Und sie hat es geschafft. Ihre beiden
Töchter studieren heute und werden sich ihre Ehemänner selbst aussuchen.
Ihr Roman wurde inzwischen in weit über 20 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Und am wichtigsten: Er ist heute Pflichtlektüre in
den weiterführenden Schulen Kameruns. Die Männer in Kamerun wissen inzwischen, wie Frauen sich fühlen, wenn sie zwangsverheiratet werden, was sie erleiden. Und das führt
dazu, dass diese Tradition hinterfragt und langsam abgeschafft wird. Für mich ist das der Beweis: Literatur hat die Kraft die Welt zu verändern!
Sie verlegen Bücher von bzw. über wahrlich starke Frauen. Was bewirken die Begegnungen mit den Autorinnen und ihren biografischen wie fiktiven Geschichten bei Ihnen selbst?
Ich empfinde diese Begegnungen als absolute Bereicherung. Ich tausche mich aus, höre zu und lerne ständig dazu. Diese Begegnungen erweitern meinen Horizont und führen mir sehr oft vor Augen, wie wenig wir über andere Länder wissen und wie privilegiert wir hier leben, aber auch wie schlecht zum Teil der Zustand in unserer eigenen Gesellschaft ist u.a. im Hinblick auf Rassismus und Diskriminierung. Diese Innensichten sind nach meinem Dafürhalten sehr wichtig, damit die Welt gerechter und solidarischer werden kann.
Frau Michael, wer die Erfolgsgeschichte des Orlanda-Verlages kennt, wer Sie in Ihrer Arbeit erlebt, der kommt nicht umhin festzustellen, dass Sie eine starke Frau sind. Wie blicken Sie selbst auf sich?
Ich denke nicht in solchen Kategorien über mich nach. Ich mache eine sinnvolle Arbeit und versuche sie so gut wie möglich zu machen – und damit einen kleinen Beitrag zu leisten.
Welche Visionen haben Sie und Ihr Team für die Zukunft des Orlanda-Verlages?
Meine Vision für den Orlanda Verlag ist, weiter Bücher zu machen, die am Puls der Zeit sind und unseren Horizont erweitern. Wie der Literaturempfehler Thomas Böhm neulich gesagt hat, „ein gutes Buch bietet eine Möglichkeit, etwas über die Welt zu erfahren und etwas zu verstehen, was ich vorher nicht wusste“. Solche Bücher wollen wir verlegen. Der Verlag soll perspektivisch noch diverser und generationsübergreifender aufgestellt werden, so dass die Arbeit weitergehen kann, auch wenn ich mal nicht mehr arbeite.
Das Interview führte Veronika
Haas.
Foto: Annette Michael © Orlanda Verlag
Starke Frauen. Starke Buchhändlerinnen
Die Bücherstube an der Tiefburg besteht bereits seit 1982 und ist (nicht nur) aus Heidelbergs Stadtteil Handschuhsheim nicht mehr wegzudenken. Ein Eldorado für Bücher-Freunde und nicht zuletzt ein Player innerhalb unserer Literaturstadt. Frau Emmert-Neumann, weshalb sind Sie Buchhändlerin geworden?
Ich bin mehr oder weniger in der Buchhandlung meiner Tante groß geworden. Ich durfte in den Schulferien „mithelfen“. Gelesen habe ich schon immer gerne, aber mich hat auch schon immer die Seite des Einkaufs und der Auswahl der Bücher interessiert. Während meines Studiums habe ich weiterhin in der Buchhandlung gejobbt und dann auch gemerkt, dass dies doch eher mein Weg ist. Ich habe mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dies bis zu meiner Rente zu tun. Und das konnte ich mir sehr gut vorstellen.
Kommen Sie neben den vielen beruflichen Anforderung auch noch privat zum Lesen?
Ich glaube, dass es „privates Lesen“ für Buchhändler*Innen kaum gibt. Ich habe immer im Hinterkopf: Soll ich dieses Buch für die Buchhandlung
einkaufen? Kann ich es empfehlen? Wem könnte ich es empfehlen? Oft bestimmen äußere Gegebenheiten meine Leseverhalten: Vertretertermine, Einkauf für Früh- oder Spätjahr,
Buchpreise etc. Aber das macht auch die Abwechslung aus. Ich wurde so schon oft auf Titel aufmerksam, die ich sonst nicht in die Hand genommen hätte.
Im Urlaub lese ich dann auch mal Titel, die nichts mit der Buchhandlung zu tun haben oder ich lese „alte“ Bücher, die ich schon immer mal lesen
wollte.
Im vergangenen Jahr haben Sie und Ihr Team anlässlich des Literaturherbst-Festivalthemenschwerpunkts „Vielfalt Liebe. Vielfalt Literatur“ einen wahrlich vielfältigen, emphatischen Büchertisch gestaltet. Auch zum Pride-Month gibt es besondere Literaturempfehlungen. Das bieten nicht viele Buchhandlungen. Welche Rolle spielen Vielfalt und Diversität in der „Bücherstube“?
Vielfalt und Diversität spielen bei uns eine große Rolle. Es gibt so viel großartige Literatur zu diesen Themen. Es ist uns ein Anliegen, diese
sichtbar zu machen.
Wir sind eine kleine Buchhandlung, haben aber gerade dadurch die Möglichkeit, unser Programm, unsere Auswahl selbst zu gestalten. Wir wollen keine
Mainstream-Literatur anbieten, die es mittlerweile sogar in Supermärkten gibt.
Wir wollen Literatur anbieten, die für Werte steht, die wir auch alle selbst vertreten können, hinter denen wir stehen. Das ist auch unsere
Philosophie und so wählen wir auch unsere Mitarbeiter*Innen aus.
Welche Ideen und Wünsche leiten Sie generell bei der Auswahl Ihres Büchersortiments?
Einerseits kaufe ich, wie wahrscheinlich jede Buchhändlerin, die Titel ein, von denen ich weiß, dass sie sich verkaufen werden. Zum Beispiel, wenn es
von Donna Leon etwas Neues gibt, weiß ich, dass es dafür Abnehmer*Innen geben wird. Diese Titel verkaufen sich von allein.
Dann gibt es aber noch die Titel, die mich beim Lesen überrascht und gefesselt haben, von denen noch niemand etwas gehört hat. Diese Titel bedürfen
dann der Beratung, man muss den Kund*Innen davon erzählen. Und das bereitet uns allen große Freude. Manchmal denkt man beim Einkauf schon an eine bestimmte Kundin oder einen
Kunden.
Die „Bücherstube“ initiiert und organisiert auch immer wieder Veranstaltungen, etwa das Handschuhsheimer Krimi-Festival, in diesem Jahr werden u.a. Ulrich Wickert, Heinrich Steinfest und Ingrid Noll zu Gast sein. Neben den vielen Alltagsaufgaben sind die Organisation und Ausrichtung von Veranstaltungen zweifellos arbeits- und zeitintensiv. Was motiviert Sie?
Ich habe ein großartiges Team um mich herum, das mich immer unterstützt und mir den Rücken freihält, wenn es mal wieder etwas mehr wird. Da wir auch schon so lange keine eigene Veranstaltung mehr durchführen konnten, lechzen wir geradezu danach, wieder mal mit unseren Kund*innen feiern zu können. Wenn dann alles gut geklappt hat, alle einen schönen Abend hatten und wir viele positive Rückmeldungen bekommen, ist aller Stress auch schon vergessen.
Frau Emmert-Neumann, sie selbst engagieren sich vielfach und sind beispielsweise auch im künstlerischen Beirat der „Heidelberger Literaturtage“. Woher nehmen Sie die Kraft, was trägt Sie?
Ich habe Freude daran, an etwas Großem mitwirken zu können und eben diese Werte, wie Diversität und Vielfalt, dort miteinbringen zu können. Es macht Spaß, mit Gleichgesinnten etwas zu gestalten. Aus vielen Jahren privater ehrenamtlicher Tätigkeit habe ich so viel mitgenommen und konnte meinen Horizont auf vielfältige Weise erweitern, dass ich sagen muss, dass sich jeglicher Aufwand immer gelohnt hat. Das werden viele unterschreiben können, die sich in irgendeiner Form engagieren: Man bekommt so viel zurück.
Immer wieder hört man mit Blick auf Digitalität und Online-Shopping Sätze wie „Den klassischen Buchhandel wird es auf Dauer so nicht mehr geben“, er müsse sich neu erfinden. Wie begegnen Sie den Veränderungen auf dem Buchmarkt bzw. dem veränderten Kaufverhalten? Warum lohnt der Weg in eine Buchhandlung weiterhin?
Natürlich hat sich unser aller Kaufverhalten mit wachsender Digitalisierung verändert. Auch der Buchhandel muss sich mitverändern, um mithalten zu
können. Es bringt uns aber nicht weiter, dies zu verteufeln. Wir müssen uns diesen Herausforderungen stellen.
Wir versuchen, neben dem klassischen stationären Buchhandel, den Verlust an die Versandhandel zu minimieren, indem wir einen Online-Shop anbieten. So
können unsere Kund*Innen auch am Wochenende, unsere Buchhandlung „besuchen“. Im Shop sieht man, was bestellbar ist bzw. was wir vorrätig haben. Mit „genialokal“ haben wir da einen
hervorragenden Partner an unserer Seite, der dies für uns umsetzt und bewirbt. Wir verkaufen auch e-Reader und ebooks.
Ich habe aber auch das Gefühl, dass die Menschen wieder bewusster an dem Ort einkaufen, an dem sie leben. Sie legen einerseits wert auf die Beratung,
die sie bei uns bekommen, andererseits wünschen Sie sich, dass der Einzelhandel am Ort erhalten bleibt.
Laut einer Studie der Universität Rostock aus dem Jahr 2018 werden Bücher von Frauen weniger verlegt und seltener rezensiert als von Männern: Nur ein Drittel der in Feuilletons besprochenen Werke waren von Schriftstellerinnen, der Autorinnenanteil bei renommierten Verlagen wie S. Fischer betrug nur 27 Prozent. Wie ist Ihr persönlicher Eindruck? Wie steht es um die Gleichberechtigung und Sichtbarkeit von Frauen in der Bücherwelt?
Das deckt sich absolut mit meinem Eindruck. Wenn ich mir die Vorschauen für den Herbst und Winter anschaue, sind dort weniger als die Hälfte
Neuerscheinungen von Autorinnen abgedruckt. Es ist aber keinesfalls so, dass Frauen weniger schreiben würden. Sie sind einfach nicht so sichtbar bzw. werden nicht so sichtbar
gemacht.
Es ist wohl wie in vielen Berufen, dass Frauen härter darum kämpfen müssen, gesehen, gelesen oder bei Verlagen angenommen zu werden.
Ich freue mich immer sehr, über tolle weibliche Neuerscheinungen und wir versuchen, dies auch entsprechend zu pushen und zu
bewerben.
Aber auch hier ist die Gleichberechtigung lange noch nicht erreicht.
Als Buchhändlerin kennen Sie die Bücherwelt wie kein anderer. Welche TOP 10 von Büchern von oder über „Starke Frauen“ würden Sie spontan empfehlen?
- Mareike Fallwickl „Die Wut, die bleibt“
- Florence Given „Frauen schulden dir gar nichts“
- Margarete Stokowski „Untenrum frei“
- Caroline Criado-Perez „Unsichtbare Frauen“
- Florence Brokowski-Shekete „Mist, die versteht mich ja“
- Virginia Woolf „Ein Zimmer für sich allein“
- Ronya Othmann „Die Sommer“
- Virginie Despentes „King Kong Theorie“
- Yael Inokai „Ein simpler Eingriff“
- Rumena Buzarovska „Mein Mann“
Und welche Frauen haben Sie angesichts ihrer Texte und ihrer Lebensgeschichte ganz persönlich beeindruckt, vielleicht gar inspiriert?
Seit ich sechszehn war, bin ich ein großer Jane Austen Fan. Sie war unverheiratet und schrieb Romane; schon das ein gewaltiger Konventionsbruch in
ihrer Zeit. Aber mehr als das hat mich ihre Art zu schreiben beeindruckt. Sie hat einen wunderbaren, feinen Sinn für Humor und einen geistreichen Stil.
Ich bewundere aber auch schon lange und immer wieder aufs Neue Sylvia Plath und Virgina Woolf.
Als noch lebende Autorin muss ich hier unbedingt noch Virginie Despentes nennen. Ich bewundere ihre Stärke und Kraft. Auch ihre Bücher sind so
kraftvoll und direkt. „King Kong Theorie“ hat wirklich viel in mir angeregt und dieses Buch ist mit ein Grund, warum ich begann, mich mit feministischer Literatur bewusst
auseinanderzusetzen.
Nina Emmert-Neumann, Jahrgang 1980, lebt mit einigen, kleineren Unterbrechungen schon immer im schönen Waghäusel. Dort ist sie verwurzelt und auch im Vereinsleben engagiert. Sie ist kommunalpolitisch aktiv und engagiert sich bei der Geflüchtetenhilfe, bei der Arbeiterwohlfahrt und im Heimatverein. Im Buchhandel arbeitet sie seit 2006, berufsbegleitend hat sie noch einen Abschluss zur Wirtschaftsfachwirtin gemacht. Seit 2017 arbeitet sie in der Bücherstube an der Tiefburg.
Das Interview führte Veronika
Haas.
Foto: Nina Emmert-Neumann © Leo Kandlin
Starke Frauen. Starke Autorinnen
Erleben Sie Marion Tauschwitz
beim 8. Literaturherbst Heidelberg
bei unserem Festivalthemenschwerpunkt-Podiumsgespräch „Starke Frauen. Starke Literatur“
am 8. Oktober 2022, 18:30 Uhr, im TIKK, Karlstorbahnhof
und am 7. Oktober 2022, 19:00 Uhr, in der GEDOK-Galerie als Moderatorin
der Lesung von Tina Stroheker „Hana oder
Das böhmische Geschenk“
Frau Tauschwitz, neben Ihren eigenen schriftstellerischen Arbeiten haben Sie die Standard-Biografien gleich von zwei starken Frauen und Literatinnen geschrieben: Hilde Domin und Selma Merbaum. Mit Hilde Domin verband Sie bis zu ihrem Tod eine jahrelange Freundschaft. Wie kam es zu dieser Freundschaft und inwiefern hat Sie diese – als Mensch, als Frau und auch als Literatin – geprägt?
Basis unserer Freundschaft – ist – natürlich – die Liebe zur Lyrik gewesen. Die führte mich zu Domins Lesungen – die Freundschaft entsprang dann im wörtlichen Sinne aus einem Augen-Blick. Ich stand im Mai 2001 nach einer Lesung Hilde Domins in der Schlange der Wartenden, um mir eines ihrer Bücher signieren zu lassen. Bevor sie zum Schreiben ansetzte – sah sie hoch zu mir. Lebendige, funkelnde Augen musterten mich. Dann lächelte sie: „Ach, reizend. Wollen Sie nicht mit zum Essen kommen?“ Dieser Augenblick, diese Einladung. waren der coup de foudre, der alles entzündete. Denn natürlich ging ich mit. Unsere Freundschaft war geboren.
Ist es möglich, in wenigen Worten zu beschreiben, was Hilde Domin zu einer starken Frau macht?
Hilde Domin schöpfte ihre Kraft aus dem Urvertrauen, das ihr das Elternhaus mit auf den Weg ins Leben gegeben hatte. Unbeirrbarer Lebenswille, gepaart mit wachem Geist und Intelligenz. Daraus entsprang ihr Selbstbewusstsein. Schon Hilde Domins Mutter war eine starke Frau gewesen und hatte diese Urkraft an ihre Tochter weitergegeben. Hatte sie darin bestärkt, ihren Individualismus auszuleben. Hilde Domin war sich ihrer Stärke sehr wohl bewusst und hatte früh Verantwortung übernommen. Schon zu Schulzeiten war sie Schulsprecherin im Merlo-Mevissen-Gymnasium in Köln. Ein liberales Lyzeum, das die Rechte der Frauen stärkte und Hilde Löwenstein 1928 als Vertreterin des Lyzeums zum Deutschen Frauentag in Köln entsandte. Dass schon die junge Frau Kraft für zwei Menschen mobilisieren konnte, war ihrem späteren Mann Erwin Walter Palm schnell klar geworden. Domin wurde seine achtarmige Göttin, war das Bodenpersonal für seine geistigen Höhenflüge. Sie sorgte für Wunder, Wohnung und Unterhalt. Sie drängte rechtzeitig zur Flucht. Sie fotografierte, tippte, formulierte für ihn. Und bei alledem – und das kennzeichnet Hilde Domin als starke Frau -, ließ sie sich den eigenen Weg zur Selbstverwirklichung nicht verbauen. Sie fuhr zweigleisig, bediente Erwin und kämpfte unverdrossen dafür, so sein zu dürfen, wie sie war.
Es war Hilde Domin, die für die Entdeckung der 1942 im Zwangsarbeitslager Michailowka verstorbenen jüdischen Lyrikerin Selma Merbaum sorgte, indem sie den Stern-Reporter und Exil-Forscher Jürgen Serke 1980 auf deren Gedichte aufmerksam machte. Sie, Frau Tauschwitz, haben 2014 die entscheidende Biografie über Selma Merbaum samt einer Neu-Ausgabe ihrer Gedichte vorgelegt. Wie haben Sie sich ihr angenähert und wohin führten Sie Ihre Recherchen?
Wie immer war auch hier die Grundlage für mein Thema – Menschenzärtlichkeit. Mich rührt der Mensch. Das Mädchen. Die starke Frau. Wenn ich dann beginne, mich mit dem Menschen und seinem Werk vertraut zu machen, bedeutet das: lesen, lesen, lesen. Bis die Gedichte zu sprechen beginnen, ihr Eigenleben preisgeben. Dazu ist der Kontext, in dem das Werk verfasst worden ist, – wie man heute weiß – unerlässlich. Also bilde ich die Geschichte ab, doch immer steht der Mensch in seiner Lebenssituation im Mittelpunkt. So wird Geschichte erfahrbar. Ich spüre Emotionen nach, indem ich historische Protokolle, Briefe, Aufzeichnungen lese und auswerte. Und entdecke dabei möglicherweise neue Ansätze. So konnte ich in meiner Selma Biografie darstellen – und das überzeugte Iris Berben, die dann das Vorwort zur Biografie schrieb, – dass Selmas Worte nicht mehr hauptsächlich als Ausdruck einer unerfüllten Liebe zu werten sind. Hinter anfangs verspielter Zärtlichkeit manifestiert sich bald die Destruktivität der immer grauenvoller werdenden täglichen Ereignisse. Die Geschichte der Zeit, in der Selma lebte, spiegelt sich in ihrer Lyrik wider. Selmas Gedichte sind kunstvoll verwobene Metaphern für ihre Trauer, ihre Angst, ihren Schrecken, auch ihre Hoffnung auf eine bessere, friedlichere Zeit. Selma kann jetzt als politisch hellwache, selbstbewusste Frau gesehen werden – die sich bis zuletzt die Hoffnung auf ein glückliches Leben nicht nehmen ließ.
Das Schicksal dieser in Czernowitz, in der heutigen Westukraine, geborenen Lyrikern ist zutiefst bewegend. Als Biografin werden Sie während Ihrer Arbeit gewissermaßen Teil dieser Lebensgeschichte, erleben eine Nähe, die zweifellos tiefgreift. Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe vorhin schon Menschenzärtlichkeit als Grundgefühl meiner Beschäftigung mit meinen Protagonistinnen erwähnt. Das bedeutet, dass ich diesen Menschen nahekommen will. Nahekommen muss. Ich will wissen, wie sie lachen und weinen und leiden – und das bedeutet, natürlich, dass sich bestimmte Szenen in mein Gedächtnis gebrannt haben, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Indem ich diese tiefe Empathie spüre, kann ich sie auch bei meinen Leserinnen und Lesern provozieren. Und ja – meine Biografien bilden nicht nur sachlich ab – sie beziehen Stellung. Sie solidarisieren sich mit den Menschen, deren Schicksal ich abbilde.
Mit Hilde Domin und Selma Merbaum, aber auch als Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland sind Sie vielfach Lebensgeschichten begegnet, die von Flucht, Exil, Vertreibung oder Gewalt geprägt sind. Wie blicken Sie als Mensch, als Frau und auch als Literatin auf unsere gegenwärtige Welt, auf den Krieg in der Ukraine, auf Syrien, Afghanistan oder den Iran: – auf die gegenwärtigen Krisen und gesellschaftlichen Entwicklungen?
Als Schriftstellerin, die sich mit Leid und Verfolgung auseinandersetzt, bin ich hellhörig geworden und habe gelernt, weit zu blicken. Doch gerade die Aufzählung in Ihrer Frage macht deutlich, dass das Leid der Welt nicht auf die eigenen Schultern geladen werden kann, nicht vom Einzelnen bewältigt werden kann. Ich kann Leid in meinem kleinen Umfeld mildern, indem ich mich dem einzelnen Menschen zuwende: eine geflüchtete Eritreerin seit mehr als dreißig Jahren durch ihr Leben begleite. Einem syrischen Flüchtling Heimatgefühl zu vermitteln versuche, ihm Deutsch beibringe. Durch unsere Arbeit im PEN-Zentrum Deutschland sind wir nah an den Schicksalen von verfolgten, inhaftierten und gefolterten Kolleginnen und Kollegen. Wir machen durch gemeinsame Lesungen aufmerksam auf Menschen, die diktatorische Machthaber zum Verstummen bringen wollen. Wir veröffentlichen Romane, lesen sie öffentlich vor und entreißen Schreibende der Verniemandung. Und immer wieder machen wir mit unserem Wort deutlich, dass die Freude am Wort auch in bitteren Zeiten legitim ist und das Recht hat, laut zu werden.
Glauben Sie, dass Literatur und das solidarische Miteinander Kulturschaffender Einfluss nehmen, die Welt gar zum Besseren wenden können?
Ich wünsche und hoffe das mehr, als dass ich das glaube. Aber vielleicht wage ich doch ein „Ja“: Literatur kann heilend wirken. Einmal für die Autorin oder den Autor, für die die Kreativität ein Mittel der Befreiung ist: Schreiben und das Unsagbare benennen. Dem Nicht-Fassbaren eine sichtbare Form geben. „Furchtlos mit der kleinen Stimme das Verschlingende beim Namen nennen“, hatte Hilde Domin diesen Prozess formuliert. Und ein andermal für Leserinnen und Leser, die die Worte aufnehmen, sich bewegen lassen, weil sie erkennen, dass sich Worte auf den Weg gemacht haben, um gelesen, um verbreitet zu werden.
Sie sind überdies Vorsitzende der GEDOK Heidelberg. Die GEDOK – eine Gemeinschaft von Künstlerinnen und Kunstfördernden – wurde vor über 100 Jahren von Ida Dehmel gegründet, um Chancengleichheit und Sichtbarkeit von künstlerisch tätigen Frauen herzustellen. Wie aktuell ist dieser Gedanke?
Ida Dehmel, die jüdische Mäzenin, gründete die GEDOK 1926 in Hamburg: Erstmalig, einmalig organisierten sich Künstlerinnen aller Sparten in dieser
Gemeinschaft. In der gesamten Republik entstanden dann Zusammenschlüsse nach dem Hamburger Modell. Sie kämpften in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht nur für Sichtbarkeit und
Chancengleichheit, sondern ums schiere Überleben: Mit Hauskonzerten wurden Mieten beglichen, durch Bilderverkäufe notleidende Künstlerinnen unterstützt. Freie Mittagstische
organisiert. Die nationalsozialistische Herrschaft läutete den Tod der GEDOK ein: Ida Dehmel wurde aus dem Amt geprügelt. Ihre Deportation konnte 1940 noch verhindert werden, doch
hielt die Frauenrechtlerin der zunehmenden Bedrohung nicht mehr stand und beging 1942 Suizid.
Der Gedanke des Nicht-Gesehen-Werdens, des Übersehen-Werdens von Künstlerinnen aller Sparten ist auch heute aktuell. So ergab die Pilotstudie
„Frauenzählen“, dass männliche Autoren häufiger und ausführlicher besprochen werden. Zwei Drittel der besprochenen Bücher sind von Männern verfasst worden. Dieses Verhältnis von
„2 zu 1“ trifft auf alle Mediengattungen zu. Kritiken werden überwiegend, im Verhältnis 4 zu 3, von Männern verfasst. Männer besprechen darüber hinaus vor allem Männer: Drei
Viertel aller von Männern besprochenen Werke sind von Autoren verfasst worden. Frauen dagegen besprechen Autorinnen wie Autoren tendenziell in eher ähnlicher
Häufigkeit.
Fazit: Männliche Autoren und Kritiker dominieren den literarischen Rezensionsbetrieb. Einzig das Kinder- und Jugendbuchsegment erscheint als
ausgeglichenes Genre. Die als intellektuell oder „maskulin“ empfundenen Genres wie Sachbuch und Kriminalliteratur werden von Männern – Autoren und Kritiker – vereinnahmt.
„Warum wir Frauen lieben“ lautete der starke Titel einer Veranstaltung von GEDOK Heidelberg-Literatinnen zum Weltfrauentag. Ein klares Bekenntnis zu Frauen, zur Hälfte der Menschheit? Welche Idee verbanden Sie mit der Veranstaltung?
Der Titel soll bewusst mehrschichtig verstanden werden. Wir haben das Thema gewählt, weil sich Frauen an die Mindestutopie klammern, dass es sich lohnt, Mensch zu sein, Solidarität zu zeigen. Nicht im Stich lassen – sich nicht und andere. Und genau das trägt die Künstlerinnen der GEDOK, weil im gegenseitigen Geben und Nehmen letztlich alle empfangen.
Was bedeutet es für Ihnen als individuelle Autorin, Mitglied und Vorsitzende in einem Künstlerinnenverband zu sein?
Im Zusammenspiel der Vielfältigkeit die eigene Stärke entdecken – Impulse einfangen und sie umsetzen. Die GEDOK bietet Raum: nicht nur im wörtlichen Sinne, denn wir haben das Privileg, eine Galerie zu haben. Sie gibt auch Raum, um Neues auszuprobieren. Sich gegenseitig zu befruchten und aus den Begegnungen Anregungen und Inspiration zu ziehen.
Neben Biografien schreiben Sie auch Prosa und Lyrik. Ihre Gedichte – wie etwa „Herbstzeitlose“ – sind von einer inhaltlichen und sprachlichen Intensität. Was leitet Sie beim Schreiben? Wo finden Sie Inspiration, wo und wann schreiben Sie am liebsten?
Ach, wissen Sie, ich bin eine disziplinierte Autorin. Ich sitze regelmäßig am Schreibtisch. Mache eine Mittagspause und täglich meinen Waldspaziergang, der mich Abstand von der Arbeit gewinnen lässt. Schwierige Text-Passagen werden beim Gehen überwunden, zähe Übergänge geschmeidig gemacht. Manchmal fällt mir dann spontan ein Gedicht ein. Da gab es einen Auslöser, einen Gedanken, einen Impuls, der zu einem schnellen Prozess führt: Idee, Bilder, Worte – dann schnell auf den Schreibblock damit. Wenn ich den nicht dabeihabe, habe ich habe mich schon selbst zuhause angerufen und mir die Idee auf den Anrufbeantworter diktiert. Meine Söhne haben mir deshalb ein winziges Diktiergerät geschenkt, das ich jetzt immer beim Spaziergehen dabeihabe.
Sie sind vielfach kulturell engagiert, begeistern sich für neue Projekte, machen sich stark für demokratische Werte und Freiheit, in all Ihrem Tun erkennt man Leidenschaft und Konzentriertheit. Was treibt Sie an, und wie gelingt Ihnen ein Ausgleich zur Arbeit?
Gegen das Vergessen anzuschreiben und Menschen vor der Verniemandung zu bewahren – das ist meine wichtigste Antriebskraft. Die Antriebskraft ist aber auch in mir selbst: Ich schreibe gerne. Ich liebe meinen Beruf, der mir erlaubt, Situationen und Bilder mit Worten einzufangen und dann Menschen mit meiner Begeisterung anzustecken. Deshalb muss man für ein Thema brennen. Dann gelingt es, dieses Feuer weiterzugeben, mit Worten zu berühren. Die Arbeit verliert den Arbeitscharakter, wenn Sie Freude macht. Wenn sich die Vielseitigkeit meiner Tätigkeit im Wissenszuwachs niederschlägt, beglückt mich das, bereichert mich. Und dafür bin ich dankbar. Auch, wenn ich mit Menschen durch meine Arbeit in ein fruchtbares Gespräch komme. Das ist nachhaltig, das ist Ausgleich und Freude. Das spornt an.
Marion Tauschwitz, Studium der Germanistik und Anglistik in Heidelberg, Gymnasiallehrerin und Dozentin. Schriftstellerin seit 2007. Marion Tauschwitz war engste Vertraute, Freundin und Mitarbeiterin der bekannten Nachkriegslyrikerin Hilde Domin (1909-2006), deren vielbeachtete Standardbiografie „Hilde Domin. Dass ich sein kann, wie ich bin“ sie 2009 zu deren einhundertstem Geburtstag vorlegte. 2015 wurde Marion Tauschwitz als Autorin des Jahres ausgezeichnet, 2018 in das PEN-Zentrum Deutschlands gewählt, sie ist Vorsitzende der GEDOK Heidelberg. Tauschwitz lebt und arbeitet in Heidelberg, schreibt Biografien, Essays, Lyrik, Roman und Novelle, Beiträge in Lexika.
Das Interview führte Veronika
Haas.
Foto: Marion Tauschwitz © Gudrun-Holde Ortner
Starke Frauen. Starke Verlegerinnen
Frau Lustig, Ihre Biografie liest sich wie ein spannender Fortsetzungsroman. Sie sind in Karlsruhe geboren, studierten in Heidelberg Philosophie und Germanistik und sind dann, anstatt zu promovieren, nach Italien emigriert. Heute lässt sich die Liebe zu den mediterranen Sprachwelten, die Sehnsucht nach dem Mittelmeerraum auch in dem vielfältigen Verlagsprogramm von Edition Converso entdecken. Was hat Sie damals zu ihrer lebensprägenden „Italienischen Reise“ bewogen?
Es wäre schön, wenn sich mein Leben auf- und zuklappen ließe wie ein Buch und ich könnte das „Spannende“ daran wohldosiert aus der ästhetischen
Distanz erleben. Ihre Frage könnte nun, über vierzig Jahre nach Beginn meiner Italienischen Reise, tatsächlich DIE Chance sein, um daraus eine
geschönte, einem Ideal, einem Bild entsprechende Erzählung zu machen. Ich will’s aber stets grell und ehrlich. Komplex waren die Beweggründe allemal. Ein treibender Faktor war
gewiss meine ewige Nestsuche verbunden mit einer gewissen Haltlosigkeit. Umso eiserner der Entschluss. Ich hatte alles abgebrochen, gekündigt, verkauft, verschenkt; den Ast, auf
dem ich saß, zerlegt. Ich war mir bewusst und auch wieder nicht, an welchem Scheideweg ich da stand. Und wie eine aufmerksame Beobachterin meines Werdegangs einmal sagte: Wo die
Wahl ist zwischen einem geebneten Weg und einem steilen, beschwerlichen, unwegbaren – Monika nimmt immer letzteren. Das Fehlen jeglichen Plans ist notwendig, um einen mutigen Schritt zu
tun. Es war eine tollkühne Tat, das würde ich auch heute noch sagen.
Damals im Frühling 1979 war es keineswegs so, dass ich leichtfertig beschlossen hätte, nicht zu promovieren. Mein Studium, das war eine große
Liebhaberei im wörtlichen Sinne. Aber ich hatte mir im wahren Leben bereits einige gravierende Fallstricke eingehandelt; dennoch machte ich mein Staatsexamen bei Prof. Theunissen
und Prof. Buhr. Jahrzehnte später, exakt 1999, konnte ich mir ob des immerdar schlechten Gewissens über die vertane Chance eine kleine Absolution einholen: Von Florenz aus am
Telefon mit dem großen Hans-Georg Gadamer (ein sizilianischer Freund hatte mich gebeten, Einzelheiten im Vorfeld eines Interviews mit ihm anlässlich der Verleihung der
Ehrenbürgerwürde der Stadt Siracusa zu klären) sagte dieser zu meinem abgebrochenen Weg zu akademischen Höhen: „Aber das ist doch mehr als klar, dass der Ruf, der Sie von Italien
ereilte, viel stärker, lauter war, als in Heidelberg zu bleiben und zu promovieren!“ Mit Nachdruck. Ich erinnere seine jugendliche Stimme. Er, ein fast
Hundertjähriger.
Ende Mai 1979 eine abenteuerliche Autofahrt nach Elba. Und der Magnetismus dieses Eilands mit seinen zahlreichen Eisenerzvorkommen zeitigte sofort
Wirkung. Es war mein erstes Mal am Meer. Meer ist
seither gleichbedeutend mit Mittelmeer. Die Schönheit der Landschaft, die Natur, die Gewalt der Elemente, das noch fischreiche Meer. Die Atmosphäre – wie man es sich so
vorstellte: lebensprall, bunt, voller uralter Geheimnisse und Rituale. Eine Theaterbühne, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Geschaffen für einen Mythos. So dass die Worte eines
dorthin „Ausgestiegenen“ – es gab da ein buntes Grüppchen, das sich in feuchten Kellerwohnungen oder auf abgelegenen Landhütten eingenistet hatte – „Hier herrscht die Magie des
Alltags! Alles fügt sich, Du schraubst deine Bedürfnisse zurück und nimmst, was der Tag oder der Freund auf der Piazza dir beschert. Und natürlich kannst du hier deine Diss.
schreiben“. Guru-Worte, die ich in mein philosophisch geschultes Gehirn tröpfeln ließ, wie eine neu entdeckte Droge. Zurück in Heidelberg, machte ich mich daran, viel Geld in
wenigen Monaten zu verdienen. Ein weiterer Faktor: Niemand sagte zu mir, während ich die Zelte abbrach: Bleib doch! Bleib bei uns! Hier bei mir, bleib, überleg’s dir doch nochmal!
Um meine Angst vor diesem gravierenden Schritt einzudämmen, stürzte ich mich in Scheinpragmatismus. Ich zog los, weil es dort auf der Insel einen Platz für mich gab. Meinen Platz
auf der Welt. Ich glaubte fest daran.
Wie würden Sie rückblickend Ihre ersten Monate beschreiben? Wohnte jedem Anfang, wie Hesse ja verspricht, ein Zauber inne?
Ende Oktober 1979, Sturm, Regen peitschten das Fährschiff von Piombino, der Winter stand vor der Tür, die Touristen – damals noch überschaubar –
waren längst weg. Die Aussteiger auf Heimaturlaub oder des Landes verwiesen; die Insel bot ihr ganz ursprüngliches Gesicht. Ich fror, bei rauchendem Kaminfeuer; die
Holzstängelchen wurden bis vor die Haustür geliefert, die Preise waren die für eine tedesca. Die Panoramen waren weiterhin phantastisch. Um nicht zu
verzweifeln, hielt ich mich fest an meiner 47 cm Robert-Walser-Gesamtausgabe – denn über ihn wollte ich promovieren. Ich bewarb mich um ein Stipendium, was wegen der Wohnanschrift
abgelehnt wurde; es war noch sehr lange vor jeglichem digitalem Denken.
Ich sprach außer Gastro-Idiom noch keine Silbe Italienisch, die aus Australien zurückgekehrten Arbeitsmigranten, die Yeah-Yeah-Männer auf der Piazza,
brabbelten ein unverständliches Englisch, meinten, es genüge mit ihnen zu sprechen. Ich lernte in Windeseile Italienisch mit allen
klassischen Mitteln, die mir zur Verfügung standen. Und es entstand ein krasses Sprach=Identitätsgefälle, gerade noch in Hegelscher Begrifflichkeit und soziolinguistischen
Kategorien zu Hause, musste ich mit einem Basic-Italienisch, das doch so wenig mit Latein zu tun hatte, in einer komplexen Welt mit unbekannten Regeln und Mentalitäten
zurechtfinden. Noch heute kann ich das Gefühl des Mich-selbst-ausgeliefert-zu-haben-wie-ein-Opferlamm wachrufen. Ich schmückte die Wohnung mit Macchia-Blumen und anderen
Fundstücken, das Meer im Winter erzählt viele Geschichten. Das sind zweifelsohne die magischen Momente, ja. Die prallten an die harte Realität, die beispielsweise hieß: Permesso
di soggiorno, Aufenthaltserlaubnis, wofür man aber einen festen Wohnsitz – una residenza – brauchte; und ob die echt oder nur vorgetäuscht, das wurde überprüft von dem
allmächtigen Franco La Guardia. Meine Bude war nur bis zum Eintreffen der nächsten Pfingsttouristen an mich vermietet. Dann tauchte ein jüngerer lockiger Sarde auf, der viel
redete, sogar über Literatur, alle Cantautori-Songs kannte, und der Gott Eros hatte die Strippen in der Hand. Viel Zauberflitter, Zauberglanz in die Augen. Ich machte die
Bekanntschaft eines deutschen Malers, Hausbesitzer in Capoliveri. Als er mich zu einer Cena di capodanno in ein Ristorante einladen wollte, meinte der Wirt, ein eingewanderter
Neapolitaner: Aber nicht mit der! Die verkehrt mit den
Sarden.“ Das war eine Lektion in Inselrassismus. So verbrachte ich Sylvester mit der sardischen Familie meiner neuen Liebe, und die Mutter warnte den Sohn: pass auf, die meint’s
ernst! Ein elbanisches Landschaftsgemälde jenes Malers schmückt heute ein pittoreskes Elba-Buch, das ich nie hätte schreiben können.
Beruflich drehte sich bei Ihnen schon bald alles um Sprache, Schreiben und Literatur. Immer, so scheint es, war Ihnen dabei auch Selbstständigkeit wichtig, die Freiheit, sich von neuen Projekten und Aufgaben inspirieren zu lassen. Erzählen Sie uns doch bitte von Ihren wahrlich spannenden Wegen, die Sie auch vom Festland auf Inseln führten.
Das mit der Sprache stimmt, wie dargelegt. Aber das mit der Selbständigkeit, das war eher den ersten Schritten in Italien geschuldet. Ich hatte von
einer Insel aus, die schon viele verführt und gefangen gehalten hatte, versucht, mir den Weg auf den Continente zu bahnen. Ich hatte sehr wohl Ansätze gemacht, doch noch die Kurve
in Deutschland zu kriegen, wieder Fuß zu fassen; aber nun war ich ja in der Rolle der Liebenden, bei der das Mütterliche eigentlich die dominante Farbe war. So blieb es bei
halbherzigen Bewerbungen und zahlreichen Jobs, um zu überleben.
Später auf dem festen italienischen Land, dann in der italienischen Sprache firm und zu Hause, da gab es keine Festanstellungen für
ausländische laureate, keine Stellen, von denen allein
frau sich hätte den Lebensunterhalt verdienen können; man konnte mehrere feste einjährige oder Honorarstellen als Muttersprachenlehrerin an Gymnasien haben, die Stellen an den
Unis wurden vorwiegend vom DAAD besetzt, waren aber auch zeitlich beschränkt, die Bezahlung nicht üppig; ich hatte es dann zu einer Dozentenstelle an der Uni Salerno gebracht,
konnte sie aber nicht antreten, weil ich seinerzeit, inzwischen mit Kind und alleinerziehend in Modena, bereits zwei Stellen an dortigen Gymnasien, eine große Schar
Deutschnachhilfeschüler, technische Übersetzungen machte, dolmetschte und einen weiteren Job in der Unibibliothek hatte …. Alles, was so unterkam, um sich und die Familie über
Wasser zu halten. Auf Elba zurück begründete ich die erste elbanische Sprachschule – STUDIO FIORE BLU (Italienisch, Deutsch, Englisch), und spätestens als ich mit der
Literaturagentur und dem literarischen Übersetzen begonnen hatte, war das Gewässer des Selbständigen mein natürliches Habitat.
Waren Sie tatsächlich auch Landwirtin auf Sardinien?
1982 wollte ich die Herkunftsinsel meiner sardischen Liebe kennenlernen. Wir bewegten uns nur durch die Ogliastra, dort lebten die Clans der zwei
Elternfamilien, und landeten schließlich in Ulassai, Provinz Núoro. Ein typisches Inlanddorf unter dem steilen Felsbrocken des Taccu. Weiter ins Tal Richtung Santa Barbara, unter
dem Winters mächtigen Wasserfall lag ein Grundstück, riesig, von einem alten Bauern mit Familie über Jahrzehnte bestellt. Es stand zum Verkauf. Dort wuchs und gedieh einfach
alles: eine fruchtbare Gartenebene, tausend Olivenbäume, alte Rebstöcke des köstlichen Cannonau, Obstbäume aller Sorten, zu jeder Jahreszeit reife Früchte, Nüsse im Winter
Nikolausäpfel und Kaki – nach Cacao oder Vanille schmeckend. Ein Wäldchen aus Korkeichen, Wacholder, Ginster, Steineichen, grüne tiefe Teiche, ein Bächlein mit Bergforellen .. .
Wie konnte ich dort nicht Bäuerin sein wollen?! Es war eine gigantische Arbeit … den Terrassenweinberg konnte nur der Ochsenpflug pflügen, der kostete ein Tagwerk wie ein
Monatslohn. Es war außerhalb jeder Infrastruktur; keine befestigten Straßen, (7 km vom Ort entfernt), kein Handy, kein Strom, kein fließend Wasser. Es gab die Quelle. Wir wollten
die Hütte ausbauen, ich kochte auf der Feuerstelle und mit dem Gaskocher. Dann wurde ich schwanger. Der Zauber hatte also gewirkt.
Die Lehre, die die sardischen Frauen in costume, die schwarz oder braungewandeten Frauen, mit Schürze
und Blüschen, mir angedeihen ließen, blieb unvergessen. Eine harte Schule. Denn ich war ja keine von ihnen, war eine von außerhalb, eine Schamlose. Eine andere, die auch nicht braun und schwarzgewandet
umherging, war die einheimische Maria Lai (Ulassai 1919-2013, Cardedu), Installationskünstlerin, Malerin; ihr großartiges Projekt „Legarsi alla montagna“ – das
blaue Band, das sie um sämtliche Häuser des Dorfs schlingen und dann ganz oben auf dem Berg befestigen ließ, hat ein Jahr vor meiner Ankunft dort stattgehabt; einen Zipfel noch
habe ich ergriffen. 2017 waren Maria Lais Kunstobjekte auf der Documenta Kassel/Athen zu sehen.
Auch Lebensgeschichten und bedeutsame Ereignisse scheinen Sie inspiriert zu haben. Sie planten einst einen Dokumentarfilm über den Palermer Frühling, Sie schrieben, als Auftragsarbeit, die „Biografie eines Mafiajägers – Leoluca Orlando“, dem international bekannten Bürgermeister Palermos, und Sie übersetzten Mario Krebs‘ Buch „Ulrike Meinhof. Ein Leben im Widerspruch“, spezialisierten sich zeitweise gezielt auf politische Literatur. Welche Wirkung hatten einerseits der Palermer Frühling oder etwa auch die Ära Berlusconi und andererseits die intensive Auseinandersetzung mit beiden doch sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten Orlando-Meinhof auf Sie?
Das Buch von Mario Krebs, Ulrike Meinhof – ein Leben im Widerspruch (rororo) brachte die Jahre, die aus der bleiernen Zeit heraus- und dann wieder in den Untergrund führten, auf den Punkt. Das Bleierne der Nachkriegszeit, das Weiterleben und Bestehen des nazistischen Denkens und Entscheidens in vielen Machtzentralen der Republik. Die Archive über Ulrike Meinhof durchsuchend, mit Freunden, Kollegen, Angehörigen von ihr sprechend, kamen dem Autor immer mehr Zweifel an dem, was sich da an gesicherten Fakten darstellt. „(…) die Medien hatten aus ihr das Zerrbild der Staatsfeindin gemacht. Zweifel …“ – Und das In-Zweifel-Ziehen wurde ein roter Faden, eine epistemologische Grundkategorie meiner Recherche genannt Leben. Und viele Jahre später, während meiner Beschäftigung mit dem sizilianischen Aufklärer, Literaten, Essayisten Leonardo Sciascia entdeckte ich in seinen Parlamentsreden, er war ja auch Parlamentsabgeordneter auf den Listen des Partito Radicale: „… Das einzige Mal, dass ich Sartre begegnet bin, war nach dem Selbstmord (oder Mord) an einigen Terroristen im deutschen Gefängnis. Sartre sagte etwas, das mich sehr beeindruckt hat, (…): dass er nichts unternehmen würde, weil er Zweifel hatte. (Fußnote: (..) Zwischen 1976 und 1977 starben im Gefängnis auch Baader und die Meinhof: laut offizieller Version war es Selbstmord.)“ (Leonardo Sciascia, deputato radicale, 1979-1983, a cura di Lanfranco Palazzolo, Milano 2004)
Wir waren alle Staatsfeinde, denn wir wollten keinen Staat, der auf dem größten
Unrecht, dem größten vorstellbaren Grauen, dem Holocaust aufbaute, als wär nichts gewesen. Ich erinnere noch deutlich einen Vormittag, ich kehrte von einer Vorlesung an der Uni in
meine Wohnung in der Weststadt zurück, steckte den Schlüssel in die Haustür, trat ins Treppenhaus und hatte zwei MP-Läufe im Rücken. Die Nachbarin hatte mich bei der Polizei
denunziert, wohl weil ich einen großen Freundeskreis hatte. Auf der Rückseite des Krebs-Buchs, das ich dann 1990 für Kaos edizioni ins Italienische übersetzt habe, das Zitat von
Gustav Heinemann, 1976: „Mit allem, was sie getan hat, so unverständlich es war, hat sie uns gemeint.“
Mit Leoluca Orlando, das war eine glückliche Fügung, meine neugierige Nase immer nach vorn gestreckt; ab 1992 – just am Tag der Ermordung des
Ermittlungsrichters Giovanni Falcone, 23. Mai, war ich mit meinem Sohn an der Hand und wenig Gepäck nach Panzano in Chianti gezogen – lebte ich in der Toscana, hatte meine ganze
Existenz, Haus und Studio Fiore Blu und Kindsvater auf Elba zurückgelassen – und verfolgte aufgewühlt, seit Jahren bereits, das Treiben der Machtzirkel zwischen Politik, Mafia,
Vatikan, Wirtschaft. Also Palermo, Rom, Vatikanstadt, Mailand. Im Gespräch mit einer Lektorin eines größeren Publikumsverlags, die sich für Sizilien, Mafia (ist ja immer ein
beliebtes Unterhaltungsthema), meinte ich locker: ja
wenn es keine Biografie vom Palermer Bürgermeister gibt, dann schreib ich sie doch! Und so landete ich ein Jahr nach der Ermordung im Palermer Frühling, und der war sehr heiß. Fortan wurde ich auf
dem Silbertablett herumgereicht, lernte adlige Kokaindealer, schreibende Fischerstöchter, Schriftsteller, Verleger und natürlich den ganzen Staff von Palazzo delle Aquile
kennen.
Zum 100. Geburtstag des bereits zitierten Leonardo Sciascia, 8. Januar 2021, rief mich Orlando frühmorgens an – gratulierte mir als neugekürter
Sciascia-Verlegerin – ich hatte zu diesem Anlass zwei bis dato unübersetzte Texte von ihm in einer Festschrift vereint: „Ein Sizilianer von festen Prinzipien“ mit Essays von Maike
Albath und Santo Piazzese. Und in meinem 2018/19 gegründeten Verlag Edition Converso veröffentlicht. Die Palermer Seiten von La repubblica berichteten in einem zweiseitigen Artikel.
Zur Ära Berlusconi mich zu äußern, das würde den Rahmen sprengen. Ich möchte an einen Brief von mir an die Bundeskanzlerin Angela Merkel erinnern, in
dem ich laut protestierte, denn sie vertrat in Ihrer Position nicht nur die vermeintlich geschlechtsneutralen deutschen Bundesbürger*innen, sondern eben auch die FRAUEN. Und es
wäre ihre Pflicht gewesen, sich gegen eine sehr heftige, sehr vulgäre Beleidigung (culona inchiavabile) Berlusconis zur Wehr zu setzen, nicht nur auf diplomatischer Ebene. Nein –
Laut in der Öffentlichkeit. Bis auf ein höfliches Standardbescheidungsbriefchen von Amts wegen kam nichts zurück.
Ende 2000 verließen Sie Italien, kehrten nach über 30 Jahren zurück in Ihre Geburtsstadt Karlsruhe. Wie erlebten Sie die Rückkehr in eine Heimat, die womöglich zunächst gar keine mehr war und in Kultur und Sprache fern von dem lag, was Ihr Leben seit 1979 so vielfach prägte?
Es war ein sehr kaltes Wasser, in das ich mich da gestürzt hatte. Ich wäre liebend gern wieder umgedreht. Mehr dazu will ich an dieser Stelle nicht sagen, ich versuche mich seit Jahren, immer wieder, an der Fertigstellung meines Romans „Die wankelmütige Heimkehrerin“. Eine weitere Tollkühnheit.
Zurück in Deutschland riefen Sie, neben Ihrer Arbeit als Übersetzerin, verschiedene Veranstaltungsreihen ins Leben, so zum Beispiel „Südwärts um die ganze Welt“ mit Literatur, Gesprächen und Philosophie. Für Ihre Veranstaltungsreihe „Liebe öffnet Tor und Tür“ wählten Sie bewusst einen besonderen Veranstaltungsort: ein Altenpflegeheim. Was hat Sie sowohl zum Thema als auch zum Ort Ihrer Veranstaltungsreihe bewogen?
Die Veranstaltungsreihe „Südwärts um die ganze Welt“ 2013 gegründet, mit sozusagen ganzheitlichem Konzept, also themenspezifische Speisen und
Livemusik an unterschiedlichen Locations in Karlsruhe – Cafè Rih, Architekturschaufenster, Bauhaussiedlung: Architekturbüro Rossmann, Gartensaal des Karlsruher Schlosses et al. –
war eine klasse Sache. Eine großartige Kommunikationsplattform, sozusagen eine Vorstufe zu meinem Verlag.
Die Reihe „Die Liebe öffnet Tor und Tür“, gründete ich dann, als mein geliebter niederländischer Ehemann, den ich kurz vor dem 11. September 2001 in
Karlsruhe kennengelernt hatte (ich selbst am Tag des Anschlags in Palermo weilend), aufgrund seiner schweren Demenz (Levy-Body) 2015 dann in ein „Heim“ gebracht hatte – eine
schreckliche, noch heute schmerzende Entscheidung, denn daraus wurde ein Kalvarienberg, viele Heime, Psychiatrie, ans Bett gefesselt, Notaufnahmen, Stürze, unmögliche
Untersuchungen… Er starb 2019. Auf seinem Grabstein steht: Die Liebe öffnet Tor und Tür.
Leben bis zum Schluß, dieses Motto leuchtet oft über Hospizangeboten, auf die am Ende das Alten- und Pflegeheim ja die Vorstufe ist. Fast täglich
gehe ich auf der so genannten Beschützten Station des Pflegeheims N.N. ein und aus. Zugleich war und ist mir das Tabuthema Alter und die Tabuisierung der Altenheime bewusst. Diese
neue Reihe – mit Literatur, Musik und Kulinaria – stellt also just einen Vorstoß gegen jede Art von Ghetto- und Lagerdenken sowie gegen die Ausgrenzung geistig und psychisch
Erkrankter dar, wo das Überschreiten der Schwelle eines solchen Heims bereits einen „revolutionären“ Akt darstellt. Beim Vorstand des genannten Hauses, darunter der Bürgermeister
des Ortes, und dem dortigen begleitenden Dienst („wir tun hier nichts anderes als Liebesdienste“) rannte ich offene Türen ein.
2018 gründeten Sie den Verlag „Edition CONVERSO“, ein noch junger Verlag, der sogleich Auszeichnungen wie den Deutschen Verlagspreis 2021 oder den Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung erhielt. Das sind Auszeichnungen für eine außerordentlich hohe Qualität der verlegerischen Arbeit, für kulturelles Engagement und innovative Programme. Wie kam es zur Verlagsgründung, und was leitet Sie bei der verlegerischen Arbeit?
Wie schon skizziert, waren die Veranstaltungen und gleichzeitig meine Jahrzehnte als literarische Übersetzerin wichtige Bausteine für die Verlagsgründung. Dann dieser Schritt, schon öfters hatte ich mit der Idee geliebäugelt, einen Verlag zu machen, aber eher wie die Kinder es sagen „was willst du mal werden, wenn du groß bist?“. Die Verlagsgründung sozusagen eine organische Fortführung meiner bisherigen Leidenschaften: Es galt jenes Podium, mit dem ich irgendwie mit der Öffentlichkeit, der Welt verbunden war, nicht zu verlieren.
Zugleich stürzte ich mich liebend gerne in neue Themen, Sprachen, das lässt sich ja alles schön auf meiner Website nachlesen, mein Mittelmeerkonzept. Angetrieben von dem Motto des lebenslangen Lernens. Angesichts des unendlichen Schmerzes ob der heimtückischen irreversiblen Krankheit meines Liebsten brauchte ich auch etwas, an dem mich festhalten. Etwas Starkes und Forderndes. Und das hatte ich dann, und ob! Meine kauffrauliche Unerfahrenheit, mein Nicht-in-Zahlen-Denken, meine kreative Weltsicht habe ich bislang teuer und bar bezahlt. So dass mir gestattet sei, dem Thema des Heidelberger Literaturherbstes hinzufügen: Starke Literatur von Starken Frauen braucht Starke Investorinnen.
Da können wir Ihnen auch seitens des Literaturherbstes nur seufzend beipflichten. In Ihrem Verlagsprogramm finden sich viele starke Frauen, es ist eine Freude, sie zu entdecken. Gibt es für Sie selbst, wenn Sie zurückblicken, neben männlichen Autoren wie etwa Pier Paolo Pasolini, auch Literatinnen, die Sie im Rahmen Ihrer Arbeit oder ganz privat beeinflusst und inspiriert haben?
Selbstverständlich und konsequenter wäre es natürlich gewesen, unter dem Dreizack der Meeresgöttin, der eigentlichen Herrscherin über die Meere, nur Frauenliteratur zu vereinen. Das würde allerdings die Themen, die Stimmen, die Sprachen und letztendlich auch mich nicht abbilden. Ich habe natürlich meine Lektionen von Simone de Beauvoir gelernt, ich habe die Klischeeschmiede „Volevo i pantaloni“ von Lara Cardella gelesen und in die Ecke geworfen. Als Hausbücher erfreue ich mich an Natalia Ginzburg und Elsa Morante. Ich liebe Leila Slimani, verehre Assia Djebar, gehe in die Lehre bei Joan Didion, die ich natürlich über ihr „Das Jahr des magischen Denkens“ kennengelernt hatte; ich verschlang A.L. Kennedy, aber ich las auch viel Katherine Mansfield; ich zog mir alle auf Deutsch vorliegenden Titel von Ágotá Kristof rein. Ich las Kate Millet in italienischer Übersetzung. Ich lernte Conni Palmen und ihre „Gesetze“ kennen. Unzählige mehr, neulich auch eine für meine Arbeit wichtige griechische Autorin Dido Sotiriou „Lebewohl, Anatolien“. Ich durfte vor wenigen Tagen den großartigen Roman von Chisako Wakatake „Jeder geht für sich allein“ als Mitglied der Preisjury für den Liberaturpreis verkünden, eine Rede halten. Darin liegt ein ganzer Trost und Humorvorrat. Allerdings hatte ich 1992 auch den Roman von Elena Ferrante „L’amore molesto“ deutschen Verlagen vergeblich zur Übersetzung angeboten, wie sauer Bier.
Ihre Lebenswege, liebe Frau Lustig, zeigen etliche Meilensteine, die Mut und Stärke voraussetzen. Zweifellos sind Sie eine starke Frau. Wie blicken Sie selbst auf sich?
Es hätte schlimmer kommen können. Oft denke ich an den geschmeidigen Weg. Wäre ich nur stärker gewesen – souveräner, Herrin meiner selbst, darin liegt ja bereits der Widerspruch – dann hätte ich diesen gewählt.
Das zeichnet starke Frauen doch geradezu aus, dass sie eben nicht den geschmeidigen Weg gehen. Und welche Visionen haben Sie für Ihre Zukunft – als Verlegerin oder auch angesichts der unstillbaren Sehnsucht nach dem Mittelmeerraum?
Keiner weiß, was die Zukunft, die sich ja im Hier und Heute bereits zuträgt, bringen wird. Ich wünsche mir, meinen 70. Geburtstag auf meiner ersten Insel feiern zu können, mit der ganzen zerbrochenen Familie, mit allen Freunden und Weggefährten. Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte, die die ganze Menschheit und ein zur Vernunftkommen, angehen – mit Verlaub, die habe ich nicht. Dem einzelnen wie der Gesamtheit ist als allererstes der Orientierungssinn abhandengekommen, der letzte Rest von Dinosauriergehirn verkümmert. Ich wünsche mir ganz heftig, dass ich zusammen mit meinem Sohn noch das von ihm zu illustrierende INSELKOCHBUCH schreiben kann, was kein Rezeptbuch sein wird. Und eine Vision, dass meine geliebte Enkeltochter, der ich nebst meinem niederländischen Mann stets meine Verlagsvorschau widme, vielleicht doch eines Tages den Verlag übernehmen kann, was bedeuten würde: Ich muss noch viele Jahre weitermachen.
Noch viele Jahre, liebe Frau Lustig, klingt für uns Leser nach einem wunderbaren Versprechen, das INSELKOCHBUCH literarisch und illustratorisch verlockend. Haben Sie herzlichen Dank für das Interview!
Das Interview führte Veronika
Haas.
Foto: Monika Lustig © privat
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